Marie Jaëll (1846–1925), in ihrer Zeit gefeierte Interpretin, war Konzertpianistin, Komponistin und Pädagogin zugleich. Ermutigt von Franz Liszt widmete sie sich ab 1871 der Komposition, nachdem sie Unterricht auf diesem Gebiet bei César Franck und Camille Saint-Saëns genommen hatte. 1887 – durch die Fürsprache Faurés und Saint-Saëns’ – wurde sie in die Société des Compositeurs Frankreichs aufgenommen.

Das Ende des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit gewaltiger Umbrüche. Geprägt durch ihre Zeit, bleibt Marie Jaëll in ihrer Künstler- und Komponistinnenseele zutiefst romantisch, doch die Entfaltung der modernen französischen Musik mit ihren neuartigen Klangfarben und harmonischen Kombinationen beeinflusste ganz genauso ihr Werk. Die „Valses mignonnes“ (zierliche Walzer), zugeeignet der Vicomtesse Emmanuel d’Harcourt, erschienen im Jahre 1888 zur selben Zeit wie die „Valses mélancoliques“ (melancholische Walzer) und die Schrift „Prisme. Problèmes en musique pour piano“ (Prisma. Probleme in der Klaviermusik), die Saint-Saëns gewidmet ist. Jeder der sechs Walzer stellt einen melodischen Diskurs dar, Stück für Stück beschwingt oder meditativ, leicht getrübt, fließend oder variierend, gestützt durch wechselnde Rhythmen, lebendig oder eher zurückgenommen.

Frische und Lieblichkeit des ersten Walzers, der hüpfende und variierende Satz des zweiten und vierten, das Heraufbeschwören von Glocken im fünften repräsentieren Stück für Stück Schöpfung in Frage und Antwort, machen den Charme dieser Werke aus. Die Differenzierung zwischen der Rolle der rechten und der linken Hand erfordert eine neue Suche nach Farbigkeit und Klanglichkeit, ruft nach einer differenzierten Anschlagsgestaltung.

Die „Valses mignonnes“ sind auch auf Cora Irsens Gesamteinspielung der Klavierwerke von Marie Jaëll zu hören, und zwar auf Vol. 1.