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Alfredo Piatti (1822-1901) gehörte zu den bedeutendsten italienischen Violoncellisten seiner Zeit. Seine Violoncello-Schule fand weite Verbreitung. Piattis interpretatorische und pädagogische Erfahrungen prägten zugleich seine Kompositionen, von denen heute allerdings kaum mehr als die "Dodici Capricci" - die "Zwölf Capricen", op. 25 - bekannt sind, und auch diese oft nur oberflächlich. So werden die Stücke gern einseitig auf spieltechnische Kriterien reduziert und mit Klischees verknüpft, die virtuoser Literatur in der Regel vorauseilen. Dazu gehört vor allem der Vorwurf populistischer Anbiederung und mangelnder geistiger Tiefe. Jedoch läßt das vielstrapazierte Bild vom Bühnenstar, der geschäftstüchtig um die Gunst eines sensationsheischenden Publikums strebt, zumeist unberücksichtigt, daß viele der legendären Genies die Ausdrucksmöglichkeiten ihres Instrumentes maßgebend vorantrieben und damit Grundlagen für die Kompositionspraxis schufen. Dies traf in besonderer Weise für die Entwicklung des Cellospiels im 19. Jahrhundert zu. Im Unterschied zur Violinkunst, deren etablierter Rang sich in einer Fülle an solistischen Kompositionen aller denkbaren Gattungen und stilistischen Richtungen äußerte, fehlte den Cellisten ein vergleichbares Repertoire. Vor diesem Hintergrund stellen Piattis Capricen, die 1875 erstmals erschienen sind, ein Schlüsselwerk dar, welches beispielhaft konzertante Ansprüche und pädagogische Absichten verbindet. Dabei differenziert und steigert der Komponist nicht nur seinerzeit gebräuchliche Spielweisen des Cellos, sondern erschließt zugleich bislang ungenutzte oder vernachlässigte Ausdrucksbereiche. Bewußt setzt er die Vielfalt an charakteristischen Klangfarben ein, die das Instrument bietet. So strapaziert er nicht, wie viele andere Komponisten und Autoren von "Schulwerken", vorrangig die Sopranlage, sondern schöpft den gesamten verfügbaren Tonraum aus. Auch erzeugt er durch spezielle Stricharten ein großes Ausdrucksspektrum. Besondere Intensität erreicht er wohl in jenen Capricen, in denen er die reichen Möglichkeiten realer und latenter Mehrstimmigkeit, einschließlich ihrer Notation, vorführt. Dabei knüpft er einerseits an die Errungenschaften Bachs an, der selbst ein erfahrener Cellist war und mit seinen Solowerken für Jahrhunderte Meilensteine schuf, andererseits greift er die stilistische Palette des späten 19. Jahrhunderts auf. Interpreten, die Piattis Errungenschaften zuvorderst in artistischem Sinne deuten, verkennen eine wesentliche Seite der Stücke: die poetischen Werte. Gerade dieser Aspekt, der den Zusammenhang von Spieltechnik und Ausdruck in besonderem Licht erscheinen läßt, stellt für den Leipziger Cellisten Norbert Hilger eine Herausforderung dar, sich mit dieser Einspielung den Capricen in anderer Weise zu nähern als Interpreten, die virtuose Brillanz als Anliegen der Kompositionen auffassen: Der eigenständige Charakter jedes einzelnen Stückes rückt in den Vordergrund. Spieltechnische Errungenschaften dienen als Mittel, nicht aber als Ziel. Absichtsvoll spielt Norbert Hilger ein Instrument, das dem Stradivari-Cello "Servais" nachempfunden ist. Zwar ist dieses wegen seiner Größe schwer zu spielen, doch zeichnet es sich durch ein einzigartiges klangliches Potential aus. Ein interpretatorisches Konzept, wie es Norbert Hilger verfolgt, dürfte dem Komponisten selbst vorgeschwebt haben. Dafür liefert die Neuausgabe der "Dodici Capricci" von Piattis Schüler William Edward Whitehouse (1859-1935), die dieser Einspielung zugrunde liegt, wertvolle Indizien.