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Wohl kein zweites Instrument besaß in der abendländischen Musik des 19. Jahrhunderts eine so zentrale Bedeutung wie das Klavier. Solistische Klavierabende in modernem Sinne, die sich von den bislang üblichen gemischtstimmigen Programmen abgrenzten, spielten spätestens seit Liszt im Konzertbetrieb eine wachsende Rolle. Die von Auftritt zu Auftritt reisenden Pianisten spezialisierten sich zu einer Art eigener Berufsgruppe. Zugleich wurde das Klavier zum (Status-)Symbol häuslicher Geselligkeit, über dessen Wohl und Wehe zeitgenössische Gemälde, Zeichnungen und literarische Arbeiten beredtes Zeugnis ablegen. Vor allem aber schätzten viele Künstler die pianistische Sprache als poetisches Medium, dem sie fern des zivilisierten Lebensalltags Konflikte und Sehnsüchte anvertrauen konnten. Komponisten trugen, nicht zuletzt stimuliert durch instrumentenbauliche Fortschritte, zu einer immensen Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten von Klaviermusik bei.
Vor allem unter dem Einfluß dogmatischer Auffassungen von "Authentizität" gerieten indes Klavierübertragungen fremder Werke in Verruf. Die Rede war von Reduktion und Verlust. (Wohlbemerkt: Gemeint sind hier nicht jene vereinfachten "Volksausgaben" von Stücken, die in wohlfeinen Salonalben auch der weniger begabten klavierspielenden "höheren Tochter" ermöglichen sollte, neben dem "Gebet einer Jungfrau" einen Schein von Beethoven, Schubert, Weber usw. in die bürgerlichen Stuben zu holen.) Nicht selten wurde gar Fälschung vorgeworfen. Immer weniger wollte einleuchten, daß sich hinter den Bearbeitungen ein schöpferischer Akt verbarg wie bei jeder Werkinterpretation, ja daß das Paraphrasieren und Transkribieren selbst eine Form der Interpretation darstellt.
Treffend formuliert dagegen der Organist Gerd Zacher: "Die historisch getreue Interpretation hat zwar ihr Gutes, berücksichtigt aber meistens nur eine Seite des Kunstwerkes: die Tradition. Der wesentlichere Aspekt eines wertvollen Kunstwerkes ist jedoch seit jeher die Tatsache gewesen, daß es Horizonte eröffnet und in die Zukunft weist - und zwar erstreckt sich das nicht nur auf die nächste Generation, sondern unter Umständen über Jahrhunderte. Plötzlich fragt man nicht mehr, ob eine Darstellung historisch vertretbar, sondern ob sie gegenwärtig notwendig ist. Erst dann erfüllt man die Forderung der Tradition, es zu machen wie sie selbst: nämlich schöpferisch zu sein (Nach-Geschaffenes ist Surrogat!)."
Der Pianist Tobias Bigger, ein technischer wie interpretatorischer Tastenvirtuose, besitzt eine Vorliebe für selten gespielte Klavierbearbeitungen aus der Zeit von ca. 1850-1950. Elf Stücke dieser Kategorie sind auf vorliegender CD verewigt, wobei die Palette der Komponisten (Schubert, Kreisler, Tschaikowsky, Brahms usw.) ebenso vielfarbig ist wie die der Bearbeiter für die Umsetzung am Klavier (Rachmaninow, Friedman, Cziffra, Grainger usw.). Bigger beweist mit dieser Einspielung aufs neue, daß er zu den fähigsten Solopianisten unserer Zeit zählt, und weiß mit fragilen Läufen wie mit kraftvollen Akkordorgien oder zum Schwingen des Tanzbeins verführenden Passagen zu überzeugen. Kundige Anmerkungen zur Rolle der Klavierkunst im 19. und 20. Jahrhundert sowie zu den auf der CD vertretenen Bearbeitern aus der Feder des Leipziger Musikwissenschaftlers Thomas Schinköth, zu finden im querstand-typisch umfangreichen Booklet, runden diese CD ab.