Sonnenaufgang im Gewandhaus

Siegfried Thiele zählte zu den profiliertesten deutschen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Rang lässt sich unter anderem daraus ersehen, dass er mit den „Gesängen an die Sonne“ das neben Beethovens Neunter zweite Werk beisteuern durfte, das in den Eröffnungskonzerten des Gewandhaus-Neubaus im Herbst 1981 erklang. Der Sonnenaufgang im Gewandhaus wäre zwar fast verhindert worden, aber dank des Einsatzes von Kurt Masur konnten die politischen Widerstände gegen den Charakter der vertonten Texte (immerhin aus der Feder von Goethe, Schiller und Hölderlin, aber halt nicht „staatstragend“) beseitigt werden und das Werk, an das sich viele sicher als erstes erinnern, wenn Thieles Name fällt, zur Aufführung kommen.

Mehr als ein Vierteljahrhundert lehrte Siegfried Thiele Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Bernd Franke und Steffen Schleiermacher gehörten dort zu seinen Kompositionsschülern. Thiele wirkte zudem in den Nachwendejahren auch als Rektor der Hochschule, eine strukturell schwierige Zeit zu meistern habend, was z.B. auch die Angliederung der Theaterhochschule „Hans Otto“ betraf, woraus die heutige Hochschule für Musik und Theater erwuchs. Neben dem vielfältigen Schaffen für den Konzertsaal entstand parallel noch ein ganz anders geartetes Oeuvre, nämlich liturgische Stücke für die Christengemeinschaft, der Thiele jahrzehntelang angehörte.

Bis ins hohe Alter war Siegfried Thiele kompositorisch aktiv, wenn auch in den letzten Jahren nur noch in eingeschränktem Maße. Wer sich ein Bild vom reichhaltigen Schaffen – sowohl dem für den Konzertsaal als auch dem liturgischen – machen möchte, kann das in dem von Christoph Sramek und Wolfgang Orf erstellten Werkverzeichnis „Töne befragen – ihr Sosein erkunden“ tun. Am 24.11.2024 ist Siegfried Thiele im Alter von 90 Jahren verstorben und darf jetzt das Licht sehen, für das er viele Werke geschaffen hat. Unsere Gedanken sind bei den Hinterbliebenen.

 

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