Die Revolution frisst ihre Kinder

In der Nachwelt blieb von ihm vor allem das Bild eines Bürgerschrecks erhalten, einer Person, für die der Begriff „Enfant terrible“ erfunden worden zu sein schien. Dass Alfred Jarry dieses Bild zumindest teilweise auch selbst kultivierte, steht auf einem anderen Blatt. In die Theatergeschichte ging der am 8.9.1873 geborene Franzose mit seinem Stück „Ubu roi“ ein, das 1896 bei seiner Uraufführung für einen handfesten Skandal sorgte, weil der titelgebende Held, der auch als Père Ubu bekannt wurde, sich als Anti-Held entpuppt, vulgäre, teilweise von Jarry selbst erfundene Begriffe verwendet und sich in seiner hemmungslosen Machtgier immer so benimmt, wie es ihm nützt, unabhängig davon, wen er damit beeinträchtigt oder gar vernichtet.

 

In welcher Form Père Ubu im 20. und 21. Jahrhundert eine Verkörperung erfahren würde, hätte sich der 1907 verstorbene Jarry sicher nicht träumen lassen – eine ganze Reihe diktatorischer Herrscher der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart passt hier prima ins Bild und übertrifft die Theater-„Vorlage“ nicht selten noch: Auch hier frisst die Revolution ihre Kinder (und im Theater sowieso). Dass solche Figuren auch bildende Künstler zur Auseinandersetzung reizen, verwundert nicht – die Liste der Prominenten reicht von Georges Rouault über Pablo Picasso bis zu Man Ray. Hierzulande ist beispielhaft der 2019 verstorbene Leipziger Künstler Gerhard Kurt Müller zu nennen, der sich mehrfach und über Jahrzehnte hinweg mit diesem Sujet befasst hat.

 

Wie Müller das ab 1978, als er erstmals auf diesen Stoff stieß, tat und was dabei herauskam, das analysiert Dieter Gleisberg in seinem äußerst lesenswerten Aufsatz „Und dieser Typ wird bleiben“ aus dem Jahr 2018, der in seinem großen Sammelband „Von Sammellust bis Engelsturz. Beiträge zu Kunst und Künstlern“ enthalten ist. Auf dessen 208 Seiten befasst sich der langjährige Direktor des Leipziger Museums der bildenden Künste und des Altenburger Lindenau-Museums auch mit vielen anderen Künstlern von Goethe bis Karl-Georg Hirsch.

 

Zur Website der Gerhard-Kurt-Müller-Stiftung

Zurück